Mein Weg

Freitagabend, kurz vor 19 Uhr, herrschte grosse Aufregung und Nervosität im Okawa Dojo in Baden. Die Wände des Dojos schienen die Spannung zu atmen, die in mir und den anderen Karatekas vor der anstehenden Kyu Prüfung brodelte. Ich habe schon an mehreren Prüfungen teilgenommen, doch diese Prüfung war etwas Besonderes, nicht nur weil sie die grösste war, sondern auch, weil ich auf meinen 2. Kyu, den Braungurt, geprüft werden würde. Das war das Ziel, das ich mir im letzten Weihnachtstraining gesetzt hatte – ein noch vor 5 Jahren unvorstellbares Ziel, das nun greifbar nahe war.

Ganz zu Beginn der Prüfung realisierte ich, dass diese Prüfung eine andere Dimension für mich haben würde. Es war das erste Mal, dass ich die gesamte Bandbreite, von den Anfängen des 10. Kyu bis hin zum 2. Kyu, durchlaufen musste und somit wird es keine grossen Pausen an der Seitenlinie für mich geben. Mir wurde bewusst, dass dies nicht nur eine beträchtliche Menge an Kraft und Ausdauer fordern würde, sondern auch, dass von mir als zukünftigem Braungurt-Träger erwartet wurde, eine vorbildliche Rolle einzunehmen. Ich konnte also nicht einfach sagen, so viel und nicht mehr.

Diese Erwartungshaltung erschien mir zunächst fast absurd, da ich mich innerlich immer noch als den Anfänger sah, der ich einst war. Doch möglicherweise ist es genau dieses Gefühl, das den Kern des Karate ausmacht: das kontinuierliche Lernen und die ständige persönliche Entwicklung. In der Tat sollte man sich vor Arroganz hüten, denn im Karate gibt es immer neue Lektionen zu lernen und neue Horizonte zu entdecken. Wäre dem nicht so, bestünde wohl auch kein Grund, das kontinuierliche Training und die Verfeinerung der Techniken voranzutreiben. Es geht also nicht nur um Perfektion per se, sondern vielmehr um das befriedigende Gefühl, das man bekommt, wenn man sich den eigenen Herausforderungen gestellt und sein Bestes gegeben hat.

Los ging es mit den Kihon-Techniken der 10. bis 7. Kyu-Grade. Wie üblich brauchte es einige Zeit, um in den Fluss der verschiedenen Techniken zu finden. Auch grundlegendere Techniken erforderten Präzision und waren mit Kraftaufwand und Anstrengung verbunden. Doch mit der Zeit stellte sich ein gutes Gefühl ein, und ich fand meinen Rhythmus. Ein Merkmal, das eine Prüfung besonders hervorhebt, ist das durchdringende Echo der Kiai, die vermutlich im gesamten Gebäude zu hören sind. Diese kraftvollen Ausrufe sind nicht nur ein Ventil für die aufgestaute Spannung, sondern auch ein Ausdruck der Stärke und Entschlossenheit, die in solch einem Moment von jedem Karateka gefordert werden. Besonders bei einer Prüfung wie dieser, wird der Kiai zu einem zentralen Element, das die Atmosphäre mit einer fast greifbaren Energie auflädt und auch die aussenstehende Schwarzgurte ab und an aufschreckt. In vergangenen Prüfungen fand ich mich oft abgelenkt durch das, was um mich herum passierte, stets darauf bedacht, Fehler zu vermeiden und die Richtigkeit meiner Techniken zu überprüfen. Das zeugte von einer gewissen Unsicherheit, die mich begleitete. Dieses Mal jedoch war meine Konzentration ganz bei mir selbst; ich war so in meine eigene Leistung vertieft, dass ich kaum wahrnahm, was um mich herum geschah.

Nach dem Kihon folgte der erste Teil des Fitnessprogramms, das aus Japanese Jumps, Liegestützen, auf Seiken selbstverständlich, und Sit-ups bestand. Die Übungen konnten auch als Vorbereitung gesehen werden für das was danach kam: die Katas. In Anbetracht dessen, dass unsere Senseis zu den besten Kata-Läufern weltweit zählen, lastete ein zusätzlicher Druck auf meinen und unseren Schultern, „just to say“. Jedoch kam kurz vor den Katas ein Schwarzgurt zu mir und sprach mir Mut zu, indem er sagte, ich würde es sehr gut mache. Alle Katas, von Taikyoku Sono Ichi bis hin zu Pinan Sono Go, mussten nacheinander ausgeführt werden, was eine enorme Anstrengung darstellte. Nach den ersten Katas intensivierten sich die Atemgeräuschen im Dojo – ein untrügliches Indiz für die immense Anstrengung, die von jedem Einzelnen abverlangt wurde. Es war offensichtlich, dass einige Prüflinge, inklusive mir, an die äussersten Grenzen ihrer Kapazitäten stiessen.

Nach Abschluss des zweiten Fitnessblocks widmeten wir uns den anspruchsvolleren Kihon Techniken bis zum Niveau des 2. Kyu. Hier dünnte sich das Teilnehmerfeld langsam aus, was die Aufmerksamkeit der Senseis auf die verbliebenen Prüflinge richtete. Die Prüfung stellte nicht nur eine physische, sondern auch eine mentale Herausforderung dar, und es wurde zunehmend wichtiger, innere Ruhe zu bewahren. Besonders spürbar wurde dies bei den komplexen Kihon-Kombinationen, wo eine Flut von japanischen Begriffen in sekundenschnelle verarbeitet und in präzise Bewegungen umgesetzt werden musste. Hier erreichte ich meine persönlichen Grenzen. Ein erstes Zittern machte sich bemerkbar, und ich beobachtete, wie einige der anderen Teilnehmer mit Schwächeanfällen zu kämpfen hatten, was meine Konzentration zusätzlich herausforderte. Die Prüfung erwies sich somit als eine Prüfung der mentalen Stärke ebenso wie der körperlichen Ausdauer und nicht alles funktionierte wie gedacht. In dem Augenblick erkannte ich, wie entscheidend es ist, nicht überstürzt zu handeln, sondern mir einen Moment zu nehmen, um die nächste Bewegung mental vorzubereiten und erst dann mit Klarheit und Präzision zu agieren.

Nach einem zermürbend zu bezeichnenden letzten Fitnessabschnitt erreichten wir den Höhepunkt der Prüfung: das Kumite. Hier waren noch einmal alle Reserven an Kraft, Kreativität und Ausdauer gefordert. Im Gegensatz zu den vorherigen Teilen der Prüfung stand man nun nicht mehr allein da, sondern hatte einen Partner an seiner Seite. Es war beeindruckend zu erleben, wie viel zusätzliche Energie und Motivation durch den direkte Kontakt und das gegenseitige Anfeuern entstanden. Die Dynamik war so mitreissend, dass man kaum aufhören konnte. Von aussen drangen motivierende Rufe, wie «Hiza Geri!», «Ushiro Geri!» – mach diesen Kick oder den Schlag. Die Anfeuerungen liessen die Energie im Raum geradezu vibrieren und verstärkten das Gefühl einer gemeinschaftlichen Dynamik. Nach zehn intensiven Runden des Kumite fielen wir einander in die Arme, überwältigt von Freude und Stolz über das gemeinsam Erreichte. Auch Tränen kamen zum Vorschein.

Als der Prüfungsteil abgeschlossen war, warteten wir gespannt auf die Bekanntgabe der Ergebnisse und die Vergabe der Gurte. Doch trotz der Spannung war es das Gefühl der kollektiven Erfahrung das überwog und nicht der individuelle Erfolg. Viele von uns hatten ihre eigenen Grenzen überschritten und liessen am Ende ihre Emotionen frei. Die Freude über die Erfolge der anderen war ansteckend und trug zur besonderen Atmosphäre bei. Es ist schwer in Worte zu fassen, welch tiefgreifendes Gefühl es ist, nach Stunden konstanter Herausforderungen dazustehen, zurückzublicken und zu realisieren, was man nicht nur alleine, sondern auch als Teil einer Gemeinschaft geleistet hat. Wir hatten das Dojo mit unserer Energie und Leidenschaft zum Kochen gebracht. Es ist ein Gefühl der vollkommenen Zufriedenheit.

Okawa Forever